Deutsche entschuldigen sich 73-mal häufiger als nötig – warum das deiner Karriere schadet

Warum wir uns manchmal entschuldigen, auch wenn wir nichts falsch gemacht haben – und wann das schadet

Im Supermarkt greifst du nach dem letzten Joghurt, jemand kommt hinzu – und du hörst dich sagen: „Oh, Entschuldigung!“, obwohl du schneller warst. Oder du initiierst eine berechtigte Nachfrage im Meeting mit: „Sorry, wenn ich nochmal frage, aber…“. Willkommen im weitverbreiteten, meist unbewussten Verhaltensmuster des Über-Entschuldigens.

Was wie eine höfliche Selbstverständlichkeit erscheint, kann unerwartete Nebenwirkungen haben: auf unser Selbstwertgefühl, unsere Wirkung im Job und sogar auf unsere Beziehungen.

Warum wir uns ohne Grund entschuldigen

In der Psychologie wird übermäßiges Entschuldigen als „Over-Apologizing“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um Entschuldigungen in sozialen Situationen, für die keine objektive Schuld vorliegt. Studien zeigen: Frauen entschuldigen sich häufiger als Männer – nicht, weil sie mehr Fehler machen, sondern weil sie eine geringere Schwelle haben, Verhalten als entschuldigungswürdig wahrzunehmen. Männer tun es ebenfalls, oft angestoßen durch soziale Unsicherheit, besonders in beruflichen Kontexten.

Der Psychiater Aaron Lazare beschreibt Entschuldigungen als Mechanismus zur Wahrung sozialen Friedens. Selbst unverantwortlich eingesetzte Entschuldigungen dienen oft unbewusst der Konfliktvermeidung.

Die drei häufigsten Situationen für unnötige Entschuldigungen

  • Meinungsäußerungen: „Sorry, aber ich sehe das anders …“
  • Nachfragen: „Entschuldigung, könntest du das nochmal erklären?“
  • Platz beanspruchen: Entschuldigungen für normales Verhalten in öffentlichen Räumen

Was im Gehirn passiert, wenn wir uns zu oft entschuldigen

Neurowissenschaftliche Forschung zeigt: In potenziell sozialen Stresssituationen reagiert das limbische System – unser emotionales Warnzentrum. Entschuldigungen werden dann als instinktive Schutzmechanismen eingesetzt, ähnlich wie Rückzug oder Beschwichtigung. Studien belegen, dass soziale Bedrohung im Gehirn teils ähnlich wie körperlicher Schmerz verarbeitet wird.

Während direkte neurologische Studien zum Zusammenhang von Über-Entschuldigen und dem Streben nach Zugehörigkeit fehlen, bestätigen sozialpsychologische Analysen: Wer sich oft entschuldigt, versucht häufig, Ablehnung zu vermeiden und soziale Akzeptanz zu sichern – oft auf Kosten der eigenen Position.

Vier psychologische Ursachen für chronisches Entschuldigen

1. Erlerntes Verhalten aus der Kindheit: Wer als Kind für angepasste, höfliche Reaktionen regelmäßig belohnt wurde, übernimmt diese Muster oft unbewusst ins Erwachsenenleben.

2. Perfektionismus und Angst vor Kritik: Perfektionistisch veranlagte Menschen entschuldigen sich prophylaktisch, aus der Sorge, den Erwartungen nicht zu genügen.

3. Kulturelle Prägung: In vielen mitteleuropäischen Kulturen gilt Rücksichtnahme als soziale Norm. Wird diese über die Realität hinaus erhöht, entsteht übertriebene Selbstzurücknahme.

4. Angst vor Zurückweisung: Wer Angst vor Ablehnung oder Kritik hat, nutzt Entschuldigungen als Schutz – gegen reale oder nur erwartete Kritik.

Wenn Höflichkeit zur Selbstsabotage wird

Die amerikanische Psychotherapeutin Beverly Engel beschreibt wiederholte, unbegründete Entschuldigungen als Form unbewusster Selbstabwertung. Sie können zu einem Teufelskreis führen: Häufiges Entschuldigen reduziert nicht nur den Respekt anderer, sondern auch das eigene Selbstwertempfinden.

Drei Risiken des übermäßigen Entschuldigens

  • Autoritätsverlust: Menschen, die sich häufig entschuldigen, werden oft als weniger kompetent wahrgenommen.
  • Schwächung des Selbstwerts: Jede überflüssige Entschuldigung signalisiert internal: „Ich habe etwas falsch gemacht.“
  • Beziehungsspannungen: In persönlichen Beziehungen können übermäßige Entschuldigungen als Unsicherheit empfunden werden.

Höflichkeits-Kultur: Die deutsche Variante

Entschuldigen liegt den Deutschen quasi im Blut. In einer aktuellen Umfrage gaben 73 Prozent der Bundesbürger an, sich gelegentlich für Dinge zu entschuldigen, die objektiv keiner Entschuldigung bedürfen. Besonders im öffentlichen Raum scheint das reflexartige Entschuldigen fast ritualisiert zu sein.

Typisch deutsche Über-Entschuldigungen

  • „Entschuldigung“ bei minimaler Verspätung
  • „Sorry“ im vollen Bus, wenn man Platz braucht
  • Entschuldigung im Meeting vor einer Nachfrage
  • Humorvolle Entschuldigung fürs Wetter

Gute und schlechte Entschuldigungen – der feine Unterschied

Psychologen unterscheiden zwischen funktionalen und dysfunktionalen Entschuldigungen:

Funktionale Entschuldigungen:

  • Folgen einem tatsächlichen Fehler
  • Werden bewusst, konkret und aufrichtig formuliert
  • Enthalten den Willen zur Wiedergutmachung
  • Stärken die Beziehung zum Gegenüber

Dysfunktionale Entschuldigungen:

  • Erfolgen automatisch, ohne konkreten Anlass
  • Lösen keine reale Konfliktsituation
  • Dienen der kurzzeitigen Selbstberuhigung
  • Mindern langfristig das Selbstbild

Was wir dagegen tun können: Strategien für bewusste Kommunikation

Die gute Nachricht: Wer zu oft „sorry“ sagt, kann das ändern. Verhaltenstherapeutische Ansätze zeigen, dass Über-Entschuldigen ein erlerntes Muster ist – und solche Verhaltensweisen lassen sich mit etwas Übung ändern.

Die 3-Sekunden-Technik

Vor der Reaktion innerlich bis drei zählen. Das hilft, automatische Entschuldigungen zu stoppen. Frage dich einfach: „Gab es wirklich einen Fehler?“

Alternative Formulierung statt Entschuldigung

Statt „Sorry, dass ich frage“ lieber „Ich hätte dazu noch eine Frage.“ Oder: „Hast du kurz Zeit?“ statt „Entschuldige die Störung.“ Deine Wirkung bleibt selbstsicher – ohne unhöflich zu sein.

Dankbarkeit statt Schuld

Sage „Danke, dass du gewartet hast“ statt „Sorry, dass ich zu spät bin.“ Solche Umformulierungen stärken nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern verbessern oft auch das Erleben des Gegenübers.

Wann eine Entschuldigung angebracht ist

Nicht jede Entschuldigung ist schlecht. Wer für einen Schaden verantwortlich ist, sollte sich entschuldigen. Psychologische Studien nennen vier Voraussetzungen:

  • Ein tatsächlicher Schaden ist entstanden
  • Man trägt (Mit-)Verantwortung
  • Soziale oder moralische Normen wurden verletzt
  • Vertrauen oder Beziehung ist belastet

Das Entschuldigungs-Paradox: Männer, Frauen und Rollenklischees

Interessanterweise kann übermäßiges Entschuldigen für Männer besonders nachteilig wirken. Gesellschaftliche Erwartungen an männliches Durchsetzungsvermögen stehen dem entgegen. Wer im Job zu oft „sorry“ sagt, wird möglicherweise in Führungsrollen seltener ernst genommen.

Obwohl es keine Studie gibt, die einen Gehaltsunterschied von genau 15 Prozent belegt, zeigen viele Untersuchungen: Durchsetzungsstärke in Verhandlungen wirkt sich positiv auf Karrieren aus – bei Männern oft stärker als bei Frauen.

Übungen für mehr Bewusstsein im Alltag

1. Die Entschuldigungs-Challenge:
Eine Woche lang alle eigenen Entschuldigungen notieren. Danach bewerten: War sie notwendig? Warum habe ich sie ausgesprochen?

2. Rollenspiele vor dem Spiegel:
Gesprächsübungen ohne Entschuldigung helfen, souveräne Sprache einzuüben. Klingt simpel, wirkt aber nachhaltig.

3. Feedback aus dem Umfeld:
Vertraute bitten, auf unnötige Entschuldigungen zu achten. Außenperspektiven zeigen oft blinde Flecken auf.

Fazit: Bewusst statt reflexhaft

Entschuldigungen bleiben wichtig – sie sind Teil eines gesunden sozialen Umgangs. Aber sie sollten in Inhalt und Bedeutung gerechtfertigt sein. Reflexhafte Entschuldigungen beeinträchtigen unser Selbstbild und unseren Einfluss im sozialen Miteinander.

Wer lernt, seine Worte bewusster zu wählen, stärkt nicht nur sich selbst, sondern auch seine Wirkung auf andere. Und falls du jetzt über dein eigenes Entschuldigungsmuster nachdenkst: Gut so. Aber bitte – entschuldige dich nicht dafür.

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